In der Neuen Weststadt Esslingen spielt die Wasserstofferzeugung für das Quartier mit über 450 Wohnungen, mit Gewerbe und Hochschule eine bedeutende Rolle. Nur die Wasserstoffautos hat man noch auf später verschoben. Warum?

Serie: Wasserstoff im Wohnquartier

Was nützt uns der Wasserstoff im Wohnbau? Ein neuer Stadtteil in Esslingen probiert es.


Das Herzstück, die alkalische Elektrolyse mit 1 MW. Bild: Hydrogenics

„Das Projekt in Esslingen ist Forschungsprojekt“ sagt Prof. Norbert Fisch, Energieplaner, Techniker und Mit-Initiator. Das man recht schnell vorangekommen sei, liege am guten Klima in der Stadt. Hier ziehen die Politiker, die Unternehmen und die Behörden an einem Strang – auch wenn es im Genehmigungsverfahren einige Überraschungen gegeben hat. Denn immerhin betritt man insoferne Neuland, als es noch nie ein doch sehr großes Wasserstoff-Projekt mittenn in einer Stadt gegeben hat. „Wir wollen IN die Stadt“, sagt Norbert Fisch. Und warum?

Abwärmenutzung ist das Um- und Auf
Wegen der Abwärme im Prozess der Wasserstoffherstellung. Aber davon später, etwas weiter unten. Zuerst: Worum geht es beim Projekt „Neue Weststadt Esslingen“?

Städtebauliches Konzept, Ablauf
Für das Gebiet wurde auf Basis eines städtebaulichen Wettbewerbs (2011) ein Rahmenplan erstellt. Im Sommer 2014 wurde das Investoren-Auswahlverfahren für die Bebauung des östlichen Abschnitts (ca. 60.000 m²BGF) abgeschlossen. Die Immobiliengesellschaft RVI, Saarbrücken hat das Auswahlverfahren für sich entschieden und bebaut den Bereich Ost. Der Bereich umfasst die fünf Blöcke A bis E, wobei gemäß dem Grundstückskaufvertrag 70 % als Wohnen und 30 % für Gewerbe umzusetzen sind. Der Bau der einzelnen Baublöcke wird zwischen 2016 und ca. 2020 erfolgen. Der westliche Bereich wird ab 2022 durch die Hochschule Esslingen bebaut. Insgesamt umfasst der Bereich Hochschule eine Fläche von rund 38.700 m²BGF.

Weststadt Esslingen Energieschema 2020
Neue Weststadt Esslingen: Das Schema der Energie-Versorgung


BHKW und Gaskessel für die Spitzenlast
Konkret sieht das so aus: In Block B und C erfolgt die Wärmeversorgung aus jeweils einer separaten Energiezentrale in der ein Biomethan-BHKW (B ~ 109 kWth, C ~ 89 kWth) den Großteil der Wärme erzeugt und ein Gas-Spitzenlastkessel (jeweils ~ 500 kWth) lediglich zur Deckung der Bedarfsspitzen eingesetzt wird. Der Strom der BHKW’s und der PV-Dachanlagen wird vorrangig für die Versorgung des Mieterstroms verwendet, für eine spätere Nutzung in einen Stromspeicher geladen oder in das Quartiersnetz eingespeist.

Großer, unterirdischer Wasserstoff-Elektrolyseur
Für die Energieversorgung von Block D, E und des Neubaus der Hochschule Esslingen wird eine zentrale Versorgungsinfrastruktur im Quartier aufgebaut. Im Zentrum der „Neuen Weststadt“ soll eine Energiezentrale entstehen, die aufgrund der städtebaulichen Anforderungen als unterirdisches Bauwerk ausgeführt wird. In der Energiezentrale bildet ein Elektrolyseur das Herzstück, der überschüssigen Strom aus erneuerbaren Erzeugungsanlagen in Wasserstoff umwandelt und die Energie auf diese Weise speicherfähig macht. Der hierfür benötigte Strom stammt aus lokalen PV-Anlagen der Blöcke D, E und der Hochschule sowie aus Erzeugungsanlagen, die von außerhalb überschüssigen, erneuerbaren Strom über das öffentliche Stromnetz liefern.

Abwärmenutzung erhöht den Nutzungsgrad der Elektrolyse.
Dieser erstmalig in einem innerstädtischen Quartier geplante Ansatz hat laut dem beteiligten Konsortioum eine signifikante Effizienzsteigerung des Elektrolyse-Betriebs zur Folge. Neben dem Ziel einer hohen erneuerbaren Eigenversorgung wird zur Steigerung der Gesamteffizienz die beim Elektrolyseprozess anfallende Abwärme in ein Nahwärmenetz eingespeist. Dadurch kann der Nutzungsgrad von rund 55 - 60 % auf 80 - 85 % angehoben werden.
Diese Infrastruktur deckt den Bedarf für Heizung und Warmwasser der Gebäude und ermöglicht im Sommer über die Einbindung von Adsorptionskälteanlagen die Bereitstellung von Kühlenergie.

Elektrolyseur erzeugt 2.800 MWh H2 pro Jahr
Die Anlagengröße des belgischen Hydrogenics-Elektrolyseurs (Kaufpreis ca. 1,8 Mio Euro) beträgt 1 MWel. Bei rund 4.500 Vollbenutzungsstunden und einer systemdienlichen Betriebsweise erzeugt der Elektrolyseur rund 2.800 MWh/a Wasserstoff pro Jahr (Ø 250 kg/d). Rund 600 MWh/a nutzbare Abwärme stehen dann aus dem Elektrolyseprozess für die Versorgung von Block D, E und der Hochschule zur Verfügung. Für die ganzjährige Vollversorgung mit Wärme ist in der Energiezentrale ein bivalentes BHKW (Erdgas 300 kWth, H2 138 kWth) und zusätzlich ein Erdgas-Spitzenlastkessel geplant. Die einzelnen Blöcke werden aus der unterirdischen Energiezentrale über ein Nahwärmenetz mit Wärme (gesamt ~ 1.400 MWh/a) versorgt.

Weststadt Esslingen Wasserstoffnutzung 2020

Die Wasserstofferzeugung und -Nutzung in der Neuen Weststadt Esslingen.

Prof. Fisch: „60 Grad Abwärme entsteht bei der Wasserstoff-Erzeugung – und die geht jetzt in die Gebäudenutzung. Deshalb gehen wir IN die Stadt – weil wir hier die Wärme nutzen können. 1-MW-Elektrolysen gibt es schon, aber nicht in der Stadt. Das geschieht zum ersten Mal, wir verkaufen also die Abwärme. In der Stadt erhöhen wir die Effizienz von 60 - 90 %. Als Mitinvestor dieses Projektes freut mich das“.

Der Wasserstoff wird an das Fernwärmenetz verkauft (8-10 % Beimischung zum Erdgas), eben als Abwärme an die Wohnungsbesitzer und Mieter und an die Industrie, die mittels Trailer-LKWs die 300-Bar-Flaschen zugestellt bekommen (Plangröße: 1 LKW pro Tag). Nur mit der vierten Säule hapert es noch: Die Abgabe an Autofahrer über eine H2-Tankstellle wurde um Jahre nach hinten verschoben. Fisch: „Wir schieben das auf die nächsten Jahre, weil wir das jetzt einfach nicht darstellen können.“ Es gebe einfach zu wenige Fahrzeuge, die an dem System teilnehmen könnten.

Batterien als Pufferspeicher
Die vorgesehene Integration von Batteriespeichern hilft, kurzzeitige Abweichungen zwischen erneuerbarer Erzeugung und Energiebedarf im Gebäude bzw. im Quartier auszugleichen. Darüber hinaus sollen die Batteriespeicher genutzt werden, um zu jeder Zeit die erforderlichen Ladeleistungen für die lokale
Elektromobilität bereitstellen zu können. Es ist geplant, die einzelnen technischen Komponenten und Versorgungssysteme über ein sektorenübergreifendes digitales Informationsnetz („Smart Grid“) miteinander zu verbinden. Eine zentrales Energiemanagement-System übernimmt dabei die Steuerung der Energieflüsse.

Koppelung mit dem Gleichstromnetz der Busse
Innovative Ideen gibt es auch beim Thema Mobilität: Hier ist geplant, Schnittstellen zwischen der stationären Energieinfrastruktur und der Mobilität im Quartier durch das Angebot von Ladestationen zu nutzen sowie die Lade- und Buchungstechnik der Fahrzeuge für einen netzdienlichen Betrieb zu verbinden. Auch eine Kooperation mit den städtischen Verkehrsbetrieben ist vorgesehen: Eine Kopplung zum Gleichstrom-Oberleitungsnetz in Esslingen, an dem oberleitungsgebundene Elektro-Hybridbusse fahren, wird geprüft, um überschüssige Strommengen aus dem Quartier oder der Bus-Rekuperation austauschen zu können. Zusätzlich sollen eine vorübergehende bidirektionale Verwendung der Antriebsbatterien in den Bussen zur Stromnetzstabilisierung untersucht und gebrauchte Batterien am Ende ihrer Lebensdauer einer Second-Life- Nachverwendung zugeführt werden.

Integration der Nutzer
Für die Einbindung der NutzerInnen im Quartier sind diverse Maßnahmen geplant. So soll z.B. für die BewohnerInnen eine App als Nutzerinterface entwickelt werden, um zeitnahe zielgerichtete Informationen zum Energieverhalten oder Tarifen zu erhalten.

Die Projektpartner:
Die Stadt Esslingen erarbeitet als Hauptantragsteller mit insgesamt zwölf PartnerInnen vor Ort, die wissenschaftliche und organisatorische Gesamtkoordination übernimmt in dem Verbundvorhaben das Steinbeis Innovationszentrum EGS (SIZ-EGS) aus Stuttgart. Weitere Partner: Technische Universität Braunschweig, Verkehrsbetrieb Esslingen, Energieversorger Polarstern u.a..

Im August 2018 haben sich die Partner Windgas Esslingen GmbH & Co. KG (WGEs) und die Greenpeace Energy eG (GPE) aus dem Verbundprojekt zurückgezogen. Im Rahmen des Projektes sollte WGEs die Projektierung, den Bau und den Betrieb des Elektrolyseurs übernehmen. GPE sollte ein Konzept für den Betrieb des Elektrolyseurs entwickeln. Die im März 2019 neu gegründete Green Hydrogen Esslingen GmbH (GHE) führt als neu gewonnener Partner diese Arbeiten vollumfänglich fort.

Weitere Infos zum Projekt:

TEIL 1: Wasserstoff-Heizung für ein neues Wohnquartier in Esslingen (D)

TEIL 2: Warum überhaupt grüner Wasserstoff im Wohnquartier?

(hst)

 

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