Es herrscht politische Unordnung im Haus Europa. Viele unterschiedliche Sichtweisen zu Gerechtigkeit, politischer und persönlicher Verantwortung und Teilhabe streiten miteinander. Das ist nicht schlecht. Diskussion ist Auseinandersetzung gleichwohl wie Zusammenfinden. Und in der derzeitigen wirtschaftlichen Umwälzung, wohl der gravierendsten der vergangenen Jahrzehnte, ist viel zu diskutieren. Ganze Branchen erleben gerade ihr Waterloo im Kampf gegen ein vertracktes Virus. Reisen, Wohnen, Arbeiten – alles im Wandel.
Nur unsere europäischen Werte sollten nicht leiden, Vorväter und -mütter haben schließlich ein wunderbares Ideengebäude errichtet, immer wieder und immer fester aus dem Schutt der Vernichtung aufgebaut. Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat, Parlamentarismus, Zivilgesellschaft um nur einige uns lieb und selbstverständlich gewordenen Eckpfeiler europäischer Wertordnung und gelebter Praxis.
Wie sehr sehnen sich viele Menschen anderswo nach der tagtäglichen Möglichkeit, diese Instrumente anwenden zu können, genießen zu können. In Hongkong zum Beispiel. Oder in der Türkei. Oder in ...
Zum Beispiel Hongkong: Was sollen wir uns einmischen, wenn China vertragsbrüchig wird und defacto in den Hafenstaat einmarschiert um ihn und ihre Bewohner*innen gleichzuschalten? Dürfen wir da wegsehen? Was gehen uns auch die chinesischen Arbeitslager für die Uiguren an, die fatal an Konzentrations- und Folterlager erinnern? Alles nur Westpropagande?
Wir Europäer haben unsere Wirtschaft, unseren Wohlstand unter anderem dem chinesischen Aufschwung zu verdanken. Wir beziehen viele Waren aus diesem Land, das entgegen unserer Hoffnung aber so gar keine Veränderung erkennen lässt: Weg von einer Gewaltdiktatur hin zu einem politisch-wirtschaftlichen Gebilde, das Menschenrechte anerkennt, Pressefreiheit unterstützt und Meinungsäußerungen nicht unter Strafe stellt. China ändert sich in die gegensätzliche Richtung. Droht, sperrt ein, überwacht, umerzieht und tötet, wen es nicht auf dem „richtigen Pfad“ sieht. Und China sieht viel.
Und was tut Europa? Nichts. Oder fast nichts. Das Schweigen österreichischer, deutscher oder französischer Politiker ist die Klaviatur, auf der Xi Jinping und seine Vasallen spielen. Ein Jegliches wird genau registriert. So auch das hilflos anmutende Warnen der deutschen Bundesregierung vor china-kritischen Kommentaren ihrer Bürger in sozialen Netzwerken. Das wird Peking gut gefallen haben. So weit haben wir es gebracht: Europa, das reiche, wohlhabende Europa ist drauf und dran seinen Kredit an Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit zu verspielen. Für billige Klamotten und blinkende Technikgadets, die wir aus Staaten importieren, die so ganz anders ticken als auf dem alten Kontinent.
Corona ist eine Chance: Vielen Bürger*innen in Schweden oder Holland, in Ungarn oder Spanien wurde klar, wie verletzlich das ganze Gebilde geworden ist. Wirtschaftliche Verflechtungen dürfen uns nicht in Abhängigkeiten bringen, die Lieferketten von Baustofferzeugern genauso gefährden wie den Nachschub von Bauteilen für Wechselrichter, Heizungs-Regelungen oder Wärmebildkameras. Jetzt singen auch jene Manager wieder das Heimatlied regionaler Produktion, die vorher die Segnungen schrankenloser Weltwirtschaft hinausposaunt haben. Jetzt ist also die beste Zeit für die Politik (und die intellektuellen Zirkel Europas), die Wertediskussion zu beginnen.
Auf welchen Werten bauen wir das Haus Europa weiter aus?