Neue Allianz für Substanz gegründet: Die Bestandsanierung benötigt nur rund ein Zehntel des CO2-Budgets eines konventionellen Neubaus.

Norbert Mayr setzt mit seiner ARGE Substanzaktivierung auf die Schätze, die es im Bestand zu heben gilt. Foto: Herbert Starmühler

„Der verantwortungsvolle Umgang mit dem stetig schrumpfenden CO2-Budget macht es unumgänglich, dass anstelle des Abrisses des despektierlich „Materiallager“ genannten Bestandes zukunftsorientiertes Weiterbauen an dieser wertvollen Raumressource das Gebot der Stunde werden muss“, sagt der Wiener Architekturhistoriker Norbert Mayr. Er ist Stadtforscher und Initiator/Bauherr des IBA-Wohnquartiers MGG22 in Wien-Stadlau hat mit Kollegen die Experten-Gruppe ARGE Substanzaktivierung gegründet. Das Motto der Gruppe:Weiterbauen statt abreißen! – CO2-neutrale Niedertemperatur statt Ressourcenverschwendung!

Neubau radikal reduzieren und fast gar nichts mehr abreissen

Mayr: „Was den Bausektor insgesamt betrifft, müssen wir den Neubau radikal reduzieren und fast gar nichts mehr abreissen sondern fast ausschließlich „reusen“. Das Thema des Gebäudes als Speicher ist relevant. Wie beim Wohnquartier MGG22 sollen auch möglichst viele Teile bestehender Bausubstanz – zum Heizen wie Kühlen – thermisch aktiviert werden. Diese trägen, stabilen Gebäudemassen können eine geothermisch basierte Energiewende mit Wind(überschuss)- bzw. PV-Strom – als batterielose Sektorenkopplung – sogar beschleunigen.“

Diese Gruppe hat sich als interdisziplinärer Expertise gebildet: 

Gerhard Bayer ÖGUT, Nachhaltige Energieversorgung von Gebäuden, Anergienutzung im urbanen Raum
Martin Hess, Atelierhess und K7-9 Bauträger, Architektur und Entwicklung, angemessene, auch tiefgreifende Intervention und Reprogrammierung für den Baubestand im Kontext
Harald Kuster, Energieplaner, Gründer von FIN – Future is now
Norbert Mayr Stadtforscher, Architekturhistoriker, Initiator/Bauherr des IBA-Wohnquartiers MGG22 in Wien-Stadlau
Jürgen Radatz, DI Architekt, Wien

Den Experten geht es um ein radikales Umdenken. Hier die Kerngedanken:

Neubau ist vollkommen kontraproduktiv inmitten der Klimakrise

„Der von der Bauindustrie noch immer favorisierte Neubau sowie der Abriss ist vollkommen kontraproduktiv inmitten der Klimakrise, die ein nachhaltiges Weiterschreiben der Grauen Energie (mit dem bereits „konsumierten" CO2) in die Zukunft fordert. Neben der Aktivierung des konstruktiven Holzbaus aus möglichst heimischen Beständen (ab Herbst 2023 ist ein FIN-Projekt in Deutschland in Betrieb) bei baulichen Erweiterungen liegt unser Fokus auf die klimagerechte Sanierung/Anpassung des Bestands als wertvolle Raum- und Speicher-Ressourcen.“

Ganzheitliche Ziel als Verständnis von Substanzaktivierung im Bestand

„Das Wohnquartier MGG22 und der Bildungscampus Seebogen zeigen, dass sich architektonisch-baukultureller Anspruch und technische Innovation ausserhalb von üblichen bzw. gewohnten Standards und Normen – das hat Harald Kuster (FIN – Future is now) exemplarisch gezeigt und unter Beweis gestellt – symbiotisch verbinden lassen. Dieses ganzheitliche Ziel prägt auch unser Verständnis von Substanzaktivierung im Bestand.“

Geringerer Energieverbrauch als Energieausweis-Berechnungen

„Da in der Praxis der Gebäudebestand oft einen geringeren tatsächlichen Energieverbrauch aufweist als die Energieausweis-Berechnungen voraussagen, kann das ganze Potential an möglichen Maßnahmen in einen mehrjährigen Monitoring- bzw. Optimierungs-Prozess schrittweise ausgeschöpft werden. Die Zeit für mehrjährige theoretische Simulationen à la Fraunhofer im Vorfeld einer Umsetzung gibt es leider nicht mehr. Es können aber z.B. zwei Bau/Sanierungsetappen für weitere Optimierungsschritte dieser Pilotprojekte dienen.“

Der Gruppe geht offenbar die nunmehr schon lange andauernde Schere zwischen Ankündigung und Umsetzung auf die Nerven. Norbert Mayr: „Seit Jahren unverändert besitzen – trotz 20 Jahre Klimaschutzprogramm 1999-2019 – nur wenige Prozent der Wiener Haushalte Räumwärme aus erneuerbarer Energie. Fast alle Haushalte sind fossil abhängig bzw. nicht mit erneuerbarer Energie versorgt, die eine Hälfte meist direkt vom Gas, die andere von einer hoch fossil erzeugten Fernwärme (KWK, den knapp 20%igen erneuerbaren Anteil kompensieren/neutralisieren (Leitungs-)Verluste).“

Die ARGE Substanzaktivierung strebt Pilotprojekte zu den folgenden Themenfeldern an:

A Substanzaktivierung des baulichen BESTANDES

A1 Bauten der Gründerzeit und Zwischenkriegszeit (zB. Gemeindebau)
A2 Ausgewiesene Baudenkmäler bzw. erhaltenswerte Bauwerke (MA19) z.B. mit Holzbalkendecken
A3 Stahlbeton-Strukturen (ab ca. 1910) meist nach 1945 (auch kommunaler Wohnbau mit Stahlbetondecken)
A4 Aktivierung von Aussenwänden (Ziegel wie Beton), diese erstmals in Hallein umgesetzte Anwendung hat FIN 2014 entwickelt.

B Ergänzungen/Erweiterungen, Sonderfall NEUBAU - von der Beton- zur Holzaktivierung

(hst)